Aus der Rede von Dr. Heinrich Eversberg, dem Vorsitzenden des Heimatvereins Hattingen, zur Eröffnung der ostdeutschen Heimatstuben im Heimathaus in Hattingen am 17. Oktober 1962
„Es ist ein alter, schöner Brauch, den Menschen wie den Häusern beim Eintritt ins Leben oder beim Beginn eines neuen Lebensabschnittes ein Wort mit auf den Weg zu geben. So hat es auch Wilhelm Elling, der Erbauer des Hauses, im Jahre 1611 getan, als er seinen Hausspruch in den Türsturz schnitzen ließ. Der Herr hat seinen Wunsch erfüllt und sein Haus vor Feuer und Brand behütet. Etwas Besseres können wir unserem Heimathaus auch im Jahre 1962 nicht wünschen.
Von der neuen Aufgabe des Hauses aus, die wir ihm ja gestellt haben, wäre es notwendig, dem Heimathaus ein Wort mitzugeben, das etwas von dem widerspiegelt, was unsere Überzeugung ist, und was uns, sie alle, veranlasst hat, so zu handeln, wie wir es in den vergangenen sechs Jahren getan haben. Dieses Wort muss etwas über uns aussagen, fern von jedem deklamatorischen Pathos einer idealistischen Schönfärberei.
Ich meine, dass ich dieses Wort gefunden habe, leider, so möchte ich fast sagen, bei Goethe. Ich sage ausdrücklich: leider!, denn ich bin nicht der Ansicht, dass wir Deutschen in einer Festrede wenigstens einmal Goethe zitieren müssten! In einem Brief findet sich folgende Stelle:
`Hörten wir doch vor einigen Jahren gar unbedachte Reden: es hieß: Die Deutschen sollten ihre verschiedenen Zungen durcheinander mischen, um zu einer wahren Volkseinheit zu gelangen. Wahrlich, die seltsamste Sprachmengerei! Zur Verderbnis des guten sondernden Geschmacks nicht allein, sondern auch zum innerlichsten Zerstören des eigentlichen Charakters der Nation, denn was soll aus ihr werden, wenn man das Bedeutende der einzelnen Stämme ausgleichen und neutralisieren will?´
Ich meine, dass Goethe hier, wohl für uns alle bestürzend, etwas vorweggenommen hat, was wir heute mit einem Schlagwort den Trend zur Massengesellschaft in ihren verschiedenen Formen des Industriellen, des Vertriebenen oder des Unbehausten bezeichnen. Denn diese Massengesellschaft bedeutet die Neutralisierung des Individuellen, des Schöpferischen, des Bedeutenden der einzelnen Stämme und Landschaften, die den eigentlichen Charakter unserer Nation ausmachen. Goethe spricht hier auch das harte und bittere Wort vom innerlichsten Zerstören, und dieses Innerlichste umfasst und umschließt mit dem Begriff der Heimat, ihrer Kultur und Geschichte, die aus den schöpferischen Kräften dieser einzelnen Stämme erwachsen sind.
Ich meine, dass ich die Aufgabe dieses Hauses: Das Bedeutende unseres eigenen westfälischen Wesens festzuhalten, so wie es der Dichter unseres Ruhrlandes, Otto Wohlgemuth, der ja in diesem Haus wohnt, mit seinen Worten gestaltet und vor uns hingestellt hat.
Zum anderen: Unsere Stadt hatte zu Beginn dieses Jahres am 1. April 1962 30.524 Bürger! Von ihnen sind 9.733 Vertriebene, d.h. 20.000 Westdeutschen sehen 9.000 Vertriebene gegenüber!
Die Gefahr, von der Goethe spricht, dass die Deutschen ihre verschiedenen Zungen durcheinander mischen könnten, ist durch Gewalt tatsächlich eingetreten. Maß das aber auch zum innerlichsten Zerstören unseres eigentlichen Charakters führen? Ich meine: Nein!
Darum müssen wir das Bedeutende der einzelnen Stämme, die aus ihrer Heimat vertrieben sind, zu uns holen, ihm Heimstatt geben an unserem Herd, damit jene Schlesier und Ostpreußen und Sudetendeutsche, die unter uns als Mitbürger leben, nicht neutralisiert werden, nicht zu schemenhaften Teilchen einer Massengesellschaft werden, deren Innerstes zerstört ist.
So möge denn dieses Heimathaus eine Pflegestätte des Bedeutenden werden, was unser Wesen im Geistigen und Kulturellen ausmacht, Heimstatt für alle, die Heimat in ihrem Herzen tragen.
Die Zunge unseres westfälischen Volkstums soll hier in der Sprache unseres Bergarbeiterdichters Otto Wohlgemuth zu uns reden, wir geben Heimstatt in diesem Haus den Zungen unserer ostdeutschen Mitbürger, damit der eigentliche Charakter der Nation nicht zerstört werde, und wir bleiben, was wir sind: Menschen, verbunden mit der Heimat, Verantwortung tragend für das Ganze, und nicht werden, was wir nicht sein wollen: Masse Mensch, heimatlos, innerlich zerstört! Und dazu dem Haus: Glück auf!“